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Buchrezension: Die Anhörung

von Manfred Schmitz-Berg | 19. Februar 2020

Die Anhörung - Wolfgang Schnurs Doppelleben als Stasi-Spitzel und Anwalt politisch Verfolgter

Nun ist das auch schon wieder 30 Jahre her, und nur den Älteren unter uns wird der Name Wolfgang Schnur noch etwas sagen. Doch beinahe wäre etwas Großes aus ihm geworden, Angela Merkel war kurzzeitig seine Pressesprecherin. Als er 2016 verarmt starb, war er nur noch wenigen als Stasi-Spitzel in Erinnerung.

Es ist das Verdienst von „Die Anhörung“, Wolfgang Schnur wieder ein wenig in den Blickpunkt zu rücken – und anhand dieser historischen Figur darzustellen, zu welchen Verwerfungen die jüngere deutsche Geschichte geführt hat und wie sich einzelne Menschen in den deutsch-deutschen Abgründen verstrickt und verirrt haben. Als Informeller Mitarbeiter („IM“) der Stasi seit 1965 hat Wolfgang Schnur als Rechtsanwalt zahlreiche regimekritische Mandanten betreut, war in namhaften Funktionen für die Evangelische Kirche Ost tätig – und hat doch gleichzeitig seinen Führungsoffizieren brühwarm berichtet, was er im Rahmen seiner Tätigkeit von seinen Auftraggebern erfahren hatte. Noch im Oktober 1989 erhielt Schnur von Stasi-Chef Mielke eine hohe Auszeichnung, und Wochen später war aus ihm der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs geworden, er galt als designierter erster frei gewählter Ministerpräsident der DDR. Wenige Tage vor der Wahl im März 1990 wurde seine Identität als „IM Torsten“ gelüftet, die Karriere als Politiker und als Rechtsanwalt war jäh beendet.

Im Mittelpunkt des von Jürgen Haase herausgegebenen Buchs steht ein Interview, das der zwischenzeitlich ebenfalls verstorbene Journalist Alexander Kobylinski im Januar 2014 mit Wolfgang Schnur geführt hat. Hinzu kommen, teilweise in den Interview-Text eingestreut, kurze Stellungnahmen oder Richtigstellungen früherer Mandanten und Wegbegleiter. Und zur Person Wolfgang Schnurs und den begleitenden Zeitumständen gibt es wohltuend knapp gehaltene Informationen, die auch dem unbefangenen Leser ein gutes Gesamtbild vermitteln. 

„Die Anhörung“ ist indes nicht nur in zeitgeschichtlicher Hinsicht eine wichtige und höchst aufschlussreiche Lektüre. Wir lernen auch einen Menschen näher kennen, der nach schwieriger Kindheit und Jugend erst in den starren gesellschaftlichen Strukturen der DDR die Rahmenbedingungen findet, die ihm zu persönlicher Anerkennung verhelfen und ihn den Pakt mit den Unterdrückern schließen lässt. Man staunt über die Bedenkenlosigkeit und die Fähigkeit, nahezu 25 Jahre ein Doppelleben zu führen, und mehr noch darüber, dass Schnur zur Wendezeit offenbar geglaubt hat, dass er mit seiner Vergangenheit die DDR als Ministerpräsident zu neuen Ufern würde führen können. Im Interview weitere 25 Jahre später räumt er in einzelnen Punkten Fehler ein, äußert Bedauern gegenüber einzelnen früheren Mandanten, aber wirklich gelernt hatte er wohl nicht. 

Fazit: Das knapp 100-seitige Buch vermittelt dem Leser einen gründlichen Einblick in die schlimmen Begleiterscheinungen des zu Ende gehenden Kalten Krieges und die Versuche des DDR-Regimes, sich dem Verfall entgegenzustellen. Die beigelegte durchweg auf Originaldokumenten fußende DVD ist eine wertvolle Ergänzung und vertieft die Eindrücke durch die Lektüre des Buches in nachhaltiger Weise. 

Empfehlung: „Die Anhörung“ ist ein wichtiges und spannendes Buch, dem ich viele Leser wünsche! 

Literaturangaben: Jürgen Haase (Hg.): Die Anhörung – Wolfgang Schnurs Doppelleben als Stasi-Spitzel und Anwalt politisch Verfolgter (mit DVD), Psychosozial-Verlag, Erschienen im November 2019, ISBN-13: 978-3-8379-2961-4